Franziska Schmidt . Berlin - Kunst Foto Historikerin, Germanistin
Ruth Stoltenberg, Objekt I
Exhibition / Opening Speech / Ruth Stoltenberg, Objekt I / Haus am Kleistpark, Berlin / 17.01.2019
Ruth Stoltenberg, Objekt I
Es ist Dezember, ungemütlich, der letzte Monat im vorigen Jahr. Regen taucht den Spätnachmittag in grau-trüb-dämmriges Licht. Es geht an Plattenbauten und einer Einfamilienhaussiedlung vorbei. Mein Ziel – ist im Nordosten Berlins gelegen – der Ort, von dem das hier ausgestellte Projekt Ruth Stoltenbergs fotografisch erzählt: Objekt I – So wurde intern die zentrale Untersuchungshaftanstalt und das Haftkrankenhaus des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR genannt. Einst mit weiteren Anlagen zu einem weit größeren Speergebiet zusammen gefasst, war das gesamte Areal für die Außenwelt ein weißer Fleck, unbekanntes Land, das auf keiner Karte verzeichnet war.
Angekommen stehe ich vor einer 4 m hohen Mauer, obenauf Stacheldraht und einem mächtigen Tor, dahinter die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die 1994 in Erinnerung an die grausamen Umstände und Bedingungen des Haftregimes der DDR entstanden ist.
Ruth Stoltenberg war im November 2012 zum ersten Mal hier und konnte nicht ahnen, wie dieser Ort sie gleichsam einnehmen wird. Als eine von sechs TeilnehmerInnen eines mehrtätigen Fotoworkshop ist ihr damals jedoch kein einziges Foto wirklich gelungen, zu sehr hat sie das dann Gesehene und Gehörte bewegt, zu stark aus dem Tritt gebracht – und doch hat das Thema sie nicht mehr losgelassen. Ruth Stoltenberg kehrte zurück, an die zehn Mal.
22.000 politisch Verfolgte, darunter DDR-Oppositionelle, Republikflüchtige, Fluchthelfer und Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen in die Mühlen der Staatssicherheit gerieten, saßen hier in Untersuchungshaft, in völliger Isolation durch speziell ausgebildete Vernehmer monatelang verhört, um möglichst Geständnis und belastende Aussagen und Informationen zu erhalten. Die Mittel dafür waren von subtil-psychologischer Art, auch weiße Folter genannt, um die totale Kontrolle über die Inhaftierten zu bekommen. Auch die Kranken wurden in Hohenschönhausen behandelt, zugleich aber wie normale Gefangene betrachtet: Statt sie zu heilen sollten sie lediglich wieder vernehmungsfähig sein – insgesamt über 3.000 Menschen, während der Flucht angeschossen, bei der Verhaftung verletzt, unter den Bedingungen der Haft erkrankt oder dieser sich widersetzt.
Es sind meist ehemalige Gefangene, die heute durch die Gedenkstätte führen und von den Umständen, Bedingungen, von den sogenannten „operativen Zersetzungsstrategien“ während der Haft berichten: der Isolation, Angst, Desinformation, der Verunsicherung, den ständigen Lichtkontrollen, der Orientierungslosigkeit, dem Schlafentzug, den Drohungen und Demütigungen, dem Zuckerbrot- und Peitschenprinzip.
Eine von ihnen ist Monika Schneider, 1985 wegen „versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts in besonders schwerem Fall“ zu 2 1/5 Jahren verurteilt. Sie verbrachte in Hohenschönhausen die ersten Monate ihrer Haft, bevor sie nach Frankfurt, Hoheneck und Bautzen kam.
Monika Schneider hat Ruth Stoltenberg zum ersten Mal durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen geführt.
Nun folge ich Monika Schneider durch die Gebäude und langen, kahlen, engen Gänge, unzählige Türen rechts und links. Insgesamt 122 Verhörräume und 200 Gefangenenzellen hat es gegeben. Im Krankenhaus standen 28 Betten bereit, Röntgenraum, OP-Saal, Zahnarzt, Optiker sowie Gynäkologie.
Es ist kalt, feucht, klamm. Ein muffiger Geruch hängt in der Luft. An den Wänden blättert die Farbe, bröckelnder Putz, geplatzte Rohre, heraushängende Kabel, auf dem Fußboden vergilbtes Linoleum. In den ehemaligen Verhörzimmern hängt gemusterte Tapete herab. Die Einrichtung: Tisch, Telefon, Stuhl, Schrank, Gardine und Vorhang an den Fenstern.
Die geöffneten Sichtklappen der Gefangenenzellen weisen den Blick auf lediglich ein kleines Bett, einen Tisch mit Stuhl sowie ein Wasch- und Klobecken. Kein Ausblick, nur spärliches Tageslicht erreicht den Raum durch milchige Glassteine statt Fenster.
Im Keller die Gummizelle, Ort der absoluten Isolation, schwarz wie die Nacht, ohne Licht und Luft, Wasser und Klo, nur der blanke Fußboden. Düsterer kann das schmerzhafte Zurückgeworfensein auf die eigene, bloße Existenz nicht aussehen.
Die Spuren der Zeit, die an den Gebäuden nagen, hinterlassen ein gewisses beklemmendes Gefühl. Bedrückend werden sie aber vor allem vor dem Hintergrund der Erinnerungen und Berichte.
„Angst hast du vom ersten bis zum letzten Tag. Am Anfang fühlst du dich ohnmächtig, hilflos, ausgeliefert. Dann kommt die Wut. Irgendwann gibst du auf. Dann lässt Du alles über dich ergehen, weil du auch keine andere Möglichkeit hast.“ Monika Schneider erzählt – von ihrem Leben, der Verhaftung in Prag, der endlosen Fahrt, der Ankunft in Hohenschönhausen, den stundenlangen Vernehmungen, den unwürdigen Behandlungen und unmenschlichen Bedingungen, der eigenen Hilflosigkeit sowie Verzweiflung, aber auch von kleinen Dingen, die Hoffnungen gaben, der 1,5 tägigen Zugfahrt nach Frankfurt, den Zuständen im Frauengefängnis Hoheneck, dann ihre Entlassung, der Neubeginn, das Weiterlaufen, Weiterleben.
Ich höre zu und gehe schweigend hinterher. Dabei laufen vor meinem inneren Auge die Bilder von Ruth Stoltenberg mit – Ich ahne und begreife, wie damals der Ort auf sie gewirkt haben muss. Reglos war sie am Anfang, wie auch ich, gelähmt. Dann aber ist sie eingetaucht, hat sich in das Thema, in die Räume, in die Details und Atmosphäre begeben. Sie hat ihren Blick fokussiert, hat diesen für jeden Winkel, jede Linie, jede noch so erscheinende Nichtigkeit aber vor allem für das nicht Sichtbare geschärft. Sie hat ihre Kamera auf Raumausschnitte, einzelne Elemente und bedeutsame Details gelenkt: nicht neutral sachlich, distanzierend, sondern in einem inneren Ringen mit dem Ort in Bildern: intiutiv, unmittelbar.
In einer Art von Verdichtung ist so die Arbeit „Objekt I“ entstanden: 72 Farb- und 9 Schwarzweißfotografien. Zehn Zeitzeugen haben zudem Ruth Stoltenberg ihre Geschichte erzählt. Das Projekt war in der künstlerisch-konzeptuellen Umsetzung von Anfang an auf die Buchform hin gedacht. Aus diesem Zusammenhang ergeben sich der Rhythmus der Bilder, der Abläufe und Wiederholungen, dem Wechsel von Schwarzweiß und Farbe, von Text und Bild. In der Folge daraus ist dann erst das Ausstellungsprojekt entstanden.
Für Stoltenberg war dies ein langer Prozess, ein Verstehen, Durchdringen, Begreifen, Erspüren von dem, was mit den Menschen geschah: „Eigentlich zeige ich nicht das, was ich tatsächlich sehe, sondern das, was ich fühle.“ Ihre Bilder ähneln darin einer Art Transformation, in dem die Objekte und das Mobiliar eine Wandlung erfahren. Aus ihrer rein äußerlich erkennbaren Funktionalität entwickelt sich so im Bild eine eigene Präsenz der verborgenen menschlichen Dramen. Stoltenberg haucht im gewissen Maße den stummen Zeugen von damals erneut Leben ein.
Ob medizinische Geräte, Flurlichter, Alarmdrähte, Schlösser, Gitterfenster oder Telefone, Schränke, Schaltanlagen – In jedem Bilddetail verbirgt sich die Macht, Überlegenheit, Demütigung und Folter eines unmenschlichen Systems.
Die Stühle in den Verhörräumen sind zu Zeichen des Martyriums der Gefangenen geworden: Als immer wieder kehrendes Motiv, als roter Faden stehen sie für die stundenlange, kräftezehrende Verhörprozedur – Machtdemonstrationen und Willensbrechung.
Die doppelten Türen der Verhörzimmer sind zweifach mit Kunstleder gepolstert, um jeden Ton und jede Regung aus dem Verhör heraus auf den Flur zu unterbinden.
Überall waren Mikrofone in die Wände und Fußböden versenkt, damit in den Schreien, dem Weinen, den Gebeten die noch so kleinste Schwachstelle der Inhaftierten nicht verloren geht.
Der Türspion, durch den junge Wachmänner ihre Kontrollblicke warfen: auf Körperpflege, das An- und Auskleiden, das Wechseln der Menstruationsbinden oder auch den Toilettengang – Dies sind Demütigungen besonders perfider Art.
An den Wänden der Gänge laufen Drähte mit Verbindungsstücken entlang, die, bei Gefahr von den Schließern unterbrochen, Alarm auslösen sollen.
Die Zellentüren mit schweren Schlössern und Riegeln, die Gitter vor den Fenstern und im Haftrichterraum, die Schalter und Knöpfe – All das bedeutet die totale Kontrolle.
Stoltenbergs Bilder tauchen in Farben und Muster ein, jene, die das damalige Haftleben bestimmten: Das Rot der Kontrolllampen in den Fluren wirkt als Signal, immer dann, wenn sich ein Gefangener auf seinem Weg zur Vernehmung befindet – Begegnungen mit anderen Inhaftierten waren strikt zu unterbinden. Das grüne Licht in einer Winternacht lässt den Verhörraum wie eine unheimlich-surreale Welt erscheinen – Sinnbild für die Aufhebung von Raum und Zeit, von Tag und Nacht – die komplette Orientierungslosigkeit, „die Angst, sich einfach aufzulösen.“ (Michael Schreiner)
Im Gegensatz zur trostlosen Gefangenenzelle sind die Verhörräume in farbige Muster getaucht, die trügerische Normalität und Alltäglichkeit simulieren, um so die Gefangenen in der quälenden Isolation zum Reden zu bringen. Die Farbe steht im starken Gegensatz zu den schwarzweißen Ansichten der Zelleninnenräume, die ein Ausdruck der Hoffnungslosigkeit und seelischen Tiefen sind. In diesen dunklen, einsamen Momenten wurde der Vernehmer trotz der zermürbenden Verhörmethoden so manches Mal herbeigesehnt, der einzigen menschlichen Stimme wegen, vielleicht auch weil dieser als einziger bestimmen darf: wer rauchen oder wer lesen. Stoltenberg hat dieses Paradoxon in die Ausstellung übertragen und das Sehnen nach der einzig verfügbaren menschlichen Regung, dem des Verhörs, in Form der farbigen Stühle in einen dunklen Zellenraum montiert.
Von all dem erzählen die Bilder von Ruth Stoltenberg.
Mein Besuch in Berlin-Hohenschönhausen ist mittlerweile an ein Ende gelangt. Die Kälte kriecht indessen durch alle Sachen. Der Regen hält an, trommelt auf ein Blechdach und verbreitet dabei einen unheimlich-summenden Ton. Ich trete in den Abend hinaus, sehe den Wächterturm im dunstigen Licht wie ein Mahnmal stehen. Es schließt sich das Tor, ein letzter Blick zurück.
Mir fallen die Worte von Monika Schneider ein: „Ich empfinde heute Genugtuung, wenn ich die Räume durchlaufe. Denn ich habe die Schlüssel in der Hand und kenne alle Ausgänge.“
Bis heute sind tiefe Wunden und Narben geblieben. Menschen sind während der Haft gestorben. Viele andere haben den Weg nicht mehr zurück ins Leben, in den Alltag, die Arbeitswelt finden können.
Schauen wir noch einmal auf die Bilder von Ruth Stoltenberg, so lösen sich imaginäre Botschaften, die in der räumlichen und gegenständlichen Durchdringung den Schicksalen der Häftlinge folgen. Indem Stoltenberg diesen Ort mit den eigenen Bildern be- aber gleichzeitig mit der ihr eigenen künstlerischen Bildsprache auch überschreibt, vermögen sich neue Sichtweisen eröffnen. Die Aufnahmen wollen kein Zeugnis sein, sondern können vielmehr in der Form ihrer Zuwendung und Transformation berühren und derart unsere Wahrnehmung, Blicke, unser Verstehen sensibilisieren.
© Franziska Schmidt, 2018
JavaScript is turned off.
Please enable JavaScript to view this site properly.